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Die Deutsche-Bahn-Kampagne "Escape" nutzte den Insight, dass niemand nach Corona mehr Lust auf virtuelle Meetings verspürte - Foto: Ogilvy/Deutsche Bahn

Die Deutsche-Bahn-Kampagne "Escape" nutzte den Insight, dass niemand nach Corona mehr Lust auf virtuelle Meetings verspürte - Foto: Ogilvy/Deutsche Bahn

Gastbeitrag

Nutzt Werbung Zeitgeist oder ist Werbung Zeitgeist?

Text: Asli Sahin und Sinya Horwedel

Zeitgeist in der Werbung. Wenn man ChatGPT fragt, was das bedeutet, antwortet die KI: "Werbung ist stets ein Spiegel der Gesellschaft, eine Reflexion der ak­tuellen Strömungen, Werte und Trends. Der Zeitgeist, jener flüchtige und dennoch prägende Geist einer Epoche, findet in der Werbewelt seinen Ausdruck und prägt maßgeb­lich die Art und Weise, wie Marken kommunizieren und mit ihrem Publikum interagieren."

Okay, soweit verstanden. Doch was sich in der Theorie gut anhört, wird in der Praxis leider viel zu selten umgesetzt – zumindest in Deutsch­land. Überraschend? Eher nicht. Die wenigsten Kampagnen sind "zeitgeisty". Stattdessen schreien Marken oft nur: "Schau mich an! Folge mir! Kaufe mich! Liebe mich!" Das Ergebnis: Skip. Skip. Skip.

Warum Zeitgeist zwingend für gute Werbung ist

In Deutschland bleibt Werbung zu oft nur Werbung. Sie will funktionieren, verkaufen, Zielgruppen über­zeugen. Und vergisst dabei, dass hinter Zielgruppen Menschen stehen, die begeistert und unterhalten wer­den möchten. Ja, auch von Werbung. In den USA beispielsweise ist das anders. Dort ist Werbung fester Bestandteil der Popkultur. Wenn eine Marke Mut beweist, indem sie ein Thema aufgreift, das die Gesellschaft bewegt – also Zeitgeist nutzt –, landet sie erst bei Jimmy Kimmel und dann vor einem Milliardenpublikum auf der ganzen Welt.


Nike machte Colin Kaepernick zum Markenbotschafter, nachdem der den Zorn wegen seines Protestes gegen Rassismus und Polizeigewalt auf sich geogen hatte. Für Nike ging die Rechnung am Ende auf - Foto: Nike

Die Kampagne von Nike mit Colin Kaepernick ist so ein Beispiel. Der American-Football-Spieler löste einen Skandal aus, als er sich vor einem Spiel während der National­hymne hinkniete, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protes­tieren. Daraufhin wurde er von sei­nem Team entlassen und zog den Zorn des damaligen US-Präsidenten Donald Trump auf sich. Doch statt ihn fallen zu lassen, machte Nike ihn zum Markenbotschafter: mit einer Schwarz-Weiß-Aufnahme von Kaepernick und der Aussage "Believe in something. Even if it means sacrificing everything."

Die Kampagne ließ Emotionen hochkochen – und zwar die unter-schiedlichsten: Von den einen wurde sie gefeiert, andere riefen zum Boykott der Marke auf; Nike- Sneaker wurden verbrannt und die Aktie fiel um drei Prozent am Tag des Kampagnenstarts. Was sich drama­tisch anhört, hat Nike jedoch nicht geschadet. Im Gegenteil: Auf lange Sicht hat die Marke von der Kampagne profitiert. Allein die Bericht­erstattung erreichte einen Gegenwert von zirka 43 Millionen US-Dollar. So lud Nike nicht nur den Markenkern "Just Do It" neu auf, sondern inspi­rierte auch viele weitere Marken, in ihrer Werbung politische Haltung zu zeigen.

Dove launchte bereits 2004 die Kampagne "Real Beauty" und seztzte damit den Startpunkt für einen neuen Zeitgeist: Frauen sind schön, egal ob sie jung oder alt sind, dick oder dünn oder welche Hautfarbe sie haben - Foto: Dove

Doch Zeitgeist in der Werbung kann noch mehr: Richtig genutzt hilft Zeitgeist einer Marke, mit ihrer Zielgruppe auf einer tieferen Ebene in Kontakt zu treten und eine starke Markentreue aufzubauen. Reden wir über "Real Beauty" und Dove. Heute würde niemand vor einem Plakat stehen bleiben und sagen "Wait, what?!", nur weil da­rauf natürliche und kurvige Frauen in Unterwäsche zu sehen sind. Als Dove die "Real Beauty"-Kampagne ins Leben rief, war das noch anders. In einer Zeit, in der das Schön­heitsideal dünn, fast ausschließlich weiß und bis zur Perfektion ge­photoshopt war, stellte Dove al­les auf den Kopf. Statt Models zu zeigen, die diesem vermeintlich perfekten westlichen Schönheits­ideal entsprachen, setzten sie auf Natürlichkeit, auf unterschiedliche Körperformen und Hautfarben. Die Kampagne thematisierte, wie sich Millionen von Frauen auf der ganzen Welt fühlten und ermutig­te sie, sich im eigenen Körper wohl und schön zu fühlen. Damit schaff­te Dove einen Meilenstein. Und tut es immer wieder aufs Neue – in­dem Dove Tensions um aktuelle Schönheitsstandards aufgreift und den Markenkern "Real Beauty" mit Zeitgeist immer wieder neu auflädt.

Erst letztes Jahr setzte die Social- Kampagne "Turn Your Back" ein Zeichen gegen den gehypten Tik­Tok-Filter "Bold Glamour". Dieser lässt die Menschen auf erschreckend realistische Art "perfekt" aussehen – was ohne plastische Chirurgie kaum erreichbar ist. Die Idee war sehr einfach: Unter dem Hashtag #TurnYourBack kehrten Influencer:innen der Kamera de­monstrativ den Rücken zu und forderten andere TikTok- User:innen dazu auf, es ihnen gleichzutun – mit unglaublichem Erfolg. Das zeigt: Zeitgeist in der Werbung kann Millionen Menschen bewegen.

Schauen wir dafür nach Deutsch­land. Pennys Film "Der Wunsch" machte auf die Versäumnisse junger Menschen während der Coronapandemie aufmerksam, traf genau den Zeitgeist und berührte damit Millionen von Menschen in ganz Deutschland. Was seinen Er­folg verdeutlicht: Der Film ist schon zwei Jahre alt und wir reden immer noch darüber.

Natürlich kann bei all diesen Beispielen die Frage aufkommen: Muss Zeitgeist-Werbung denn zwangsläufig immer groß und teuer sein? Nein. Ein aus Zeitgeist entstandener Tweet, ein einzelnes Posting oder eine Low-Budget- Kampagne kann manchmal sogar mehr für eine Marke tun als ein millionenschwerer Werbefilm, der den Zeitgeist jedoch nicht trifft.

Apropos viel Zeitgeist und wenig Budget

Unsere letzte Arbeit "Escape" für die Deutsche Bahn und deren Ziel­gruppe der Geschäftsreisenden ist so ein Beispiel. In einer Zeit, in der Homeoffice und Videocalls zum Business-Alltag gehören, haben wir uns gefragt, wie Geschäfts­reisende dazu inspiriert werden könnten, wichtige Meetings wieder persönlich abzuhalten.

Viel Budget hatten wir nicht. Also brauchten wir eine gute Idee mit Zeitgeist-Potenzial. Lange mussten wir nicht nach dieser guten Idee nicht suchen, denn wir sind selbst die Zielgruppe und befinden uns tagtäglich im Videocall-Wahnsinn (auch für diesen Artikel haben wir einige Videocalls gehalten). Ja, Videocalls ersparen uns viel Zeit. Und ja, sie können oft sehr an­strengend sein. Nicht umsonst gibt es Millionen "Work-from-home- Videos" und Memes, die sich über Videocalls lustig machen. Also dachten wir: Lasst uns Zeit­geist nutzen und das Elend von Videocalls mit viel Humor wider­spiegeln. Dafür haben wir echte Videocall-Momente dargestellt, die mit Missverständnissen und tech­nischen Problemen gespickt sind. Die Botschaft war eine Erinnerung: "Zum Glück gibt‘s noch persönliche Meetings. Bahn.de/businessreisen."

Die Videos haben nicht nur Menschen zum Lachen gebracht, sondern einen Nerv getroffen und so Aufmerksamkeit geweckt – wor­um Marken jeden Tag kämpfen und dafür viel Geld ausgeben. Über die Zahlen dürfen wir nicht reden, aber glauben Sie uns: Sie waren wirk­lich gut. Auch international kam die Kampagne sehr gut an und wur­de jetzt schon mit über 50 Awards ausgezeichnet.

Zurück zur eigentlichen Frage: Nutzt Werbung Zeitgeist oder ist Werbung Zeitgeist?

ChatGPTs Antwort: "Erfolgreiche Werbung versteht es oft, den Puls der Gesellschaft zu erfühlen und The­men aufzugreifen, die Menschen an-sprechen. Sie kann den Zeitgeist einfangen, indem sie sich an aktuel­len Diskussionen beteiligt, die Hal­tung zu sozialen Fragen widerspie­gelt oder auf kulturelle Phänomene reagiert. In diesem Sinne kann Werbung sowohl als Reaktion auf den Zeitgeist dienen als auch aktiv dazu beitragen, diesen zu formen." Danke, ChatGPT, aber was heißt das nun konkret?


Asli Sahin, geboren in Istanbul, aufgewachsen in Frankfurt, ist Creative Director bei Ogilvy Germany und Mitglied des Art Director Clubs (ADC). Sie startete ihre Karriere als Art Director/Copywriter bei Ogilvy in Franfurt, bevor sie nach Berlin zog und bei HeimatTBWA binnen einen halben Jahres Creative Director wurde. In ihrer jungen Karriere hat sie bereits Kampagnen für Deutsche Bahn, Coca-Cola, FDP, Smart und viele weitere kreiert und diverse nationale wie internationale Kreativpreise gewonnen. Ihre Arbeit "Escape" für die Deutsche Bahn ist eine der meistausgezeichneten Kampagnen 2023 aus Deutschland - Foto: Ogilvy


Sinya Horwedel ist quasi ein Ogilvy-Eigengewächs. Nach ihrer Ausbildung an der Miami Ad School Hamburg und Praktika in Paris, Miami und New York startete sie ihre Karriere bei Ogilvy Germany und hat seitdem ihren Weg von der Junior Art Director zur Kreativdirektoren mit vielen nationalen und internationalen Awards gepflastert. IMit ihren Arbeiten "Spar Dir den Flug" und "Escape" für die Deutsche Bahn gewann sie mehrere Cannes-Löwen und könnte eine ganze Dartscheibe mit ADC-Nägeln zustecken - Foto: Ogilvy

Einige der oben genannten Beispiele beweisen: Werbung kann selbst zum Zeitgeist werden, wenn sie eine gesellschaftliche Tension auf beein­druckende Art thematisiert und so einen Mehrwert für Menschen schafft. Aber Zeitgeist nutzen, heißt nicht, nur auf aktuelle Trends aufzuspringen.

Wir haben viel über den Unterschied zwischen Zeitgeist und Trends diskutiert. Unser Fazit: Da Trends meist kurzlebig sind, können sie Teil von Zeitgeist sein. Aber Zeit­geist ist nie nur ein Trend. Zeitgeist spiegelt einen gesellschaftlichen Wandel wider. Das bedeutet, wer nur auf einen Trend aufspringt, produziert meist einfach die nächste Kampagne im Content-Dschungel, die schon ver­gessen ist, bevor sie zu Ende ge­schaut wurde.

Wer nicht in diesem Content- Dschungel verloren gehen möchte, braucht drei essenzielle Dinge:
· Eine Idee, die zur Markenhaltung passt.
· Ein relevantes, zeitgemäßes The­ma, das die Marke glaubwürdig vertreten kann.
· Und vor allem: Mut. Mut, nicht jedem gefallen zu wollen.
Nur so lässt sich etwas kreieren, das Menschen berührt, zum Nachdenken anregt und die Kraft bekommt, selbst Zeitgeist zu werden.

Hier kommt nun unser Versuch eines Artikels zum Thema Zeitgeist – der hoffentlich hilfreiche Erkennt­nisse liefert – zum Abschluss. Aber: Solange wir nicht viel mehr gute Werbung mit Zeitgeist machen, wird es wohl auch weiterhin nicht der letzte Artikel dieser Art bleiben.

PS: Was sich in Teilen wie eine Werbung für ChatGPT liest, ist keine. Oder zumindest nur unbezahlte. ChatGPT für Recherche zu nutzen, ist ja schließlich auch zeitgeisty.

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