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Grafik: Martin Andree

Grafik: Martin Andree

Big Tech

Online Marketing Klonkrieger

Stellen Sie sich mal kurz ein paar Rockstars vor, die Sie gern mögen. Und assoziieren Sie gern ein paar Sekunden herum, wofür Ihre Lieblings-Rockstars sich in ihren Liedern so alles eingesetzt haben. Meine Rockstars haben die Liebe besungen, die Freundschaft, sie haben eine bessere und gerechtere Welt heraufbeschworen, und sie haben Rassisten gehasst.
 
Nun treffen wir uns gerade alle in Hamburg, auf einer höchst rätselhaften Veranstaltung, die ausgerechnet "Online Marketing Rockstars" heißt. Wie wir alle wissen, geht’s da um die digitale Welt. Nur dass spätestens seit Elon Musks Übernahme von Twitter auch den stursten Digital-Evangelisten und Tech-Bewunderern klargeworden sein müsste, dass etwas heftigst rotten ist in the state of digital. Das einstmals gute Internet kippt ab und gerät auf die dunkle Seite der Macht. Darth-Vader- Konzerne kontrollieren immer mehr das Netz und können damit machen,was sie wollen. Und wir als Digitalbranche feiern sie dafür ab in Hamburg.


Dr. Martin Andree ist Wisenschaftler, Gründer und Manager im Bereich digitale Medien und Marketing und unterrichtet digitale Medien an der Uni Köln. Soeben von ihm erschienen: "Big Tech muss weg - Die Digitalkonzerne bedrohen Demokratie und Wirtschaft. Wir werden sie stoppen" (Campus 2023) - Foto: Florian Lechner

 
Trump und AfD legen munter zu – aktiv unterstützt von den Algorithmen der Plattformen. Ganz superclevere Leute aus der Werbebranche empfehlen den etablierten Parteien seit ein paar Monaten, sie müssten doch jetzt auch mal richtig Vollgas geben in den sozialen Netzwerken und die Demokratiefeinde mit innovativem Content gehörig in die Schranken weisen. Man mag sich etwas die Augen reiben, denn der Appell ähnelt demjenigen, den sich die redaktionellen Medien schon seit vielen Jahren anhören müssen: Könnt Ihr nicht mal auch cooles digitales Zeug auf die Plattformen stellen?
 
Solche Stimmen übersehen, dass Radikale, Extremisten und Demokratiefeinde aus propagandistischem Kalkül den vollen Fokus auf die Netzwerke legen. Für diese Strategie gibt es einen einfachen Grund: Die Plattformen
boosten emotionale und aufrührerische Inhalte algorithmisch. Inhalte mit Hass, Hetze und Häme werden dort verstärkt ausgespielt. Die Digitalkonzerne unterstützen so die Radikalisierung von Positionen sowie die Polarisierung in unserer Gesellschaft, sie arbeiten also aktiv mit an der Destabilisierung unserer Demokratie. Trump selbst hat gesagt, ohne Twitter wäre er nicht Präsident geworden. Besonders zynisch ist, dass die Digitalkonzerne nach wie
vor mit strafbaren und demokratiefeindlichen Inhalten Geld verdienen.
 
In den Netzwerken gilt: Je härter, greller, krasser, emotionaler und skandalisierender, desto besser. Was sollen die etablierten Parteien also tun? Sollen sie jetzt auch mehr Hass, Hetze und Häme verbreiten, um die AfD in die Schranken zu weisen? Sollen sie zurücklügen und faken?
 
Meine Rockstars würden über die digitale Zerstörung unserer Demokratie Tränen vergießen. Aber wir wollen jetzt in Hamburg lustig Party machen. Und deshalb wischen wir meine lästige Frage nach der Zukunft der Demokratie jetzt einmal kurz beiseite und nehmen spielerisch einmal einen maximal desinteressierten Standpunkt ein. Probieren wir es aus: Nehmen wir einmal probeweise eine Haltung der kompletten politischen Ignoranz und der reinen wirtschaftlichen Gier ein, als ginge es uns ausschließlich um Gewinnmaximierung.
 
Auch aus der Perspektive müssen wir erkennen, dass das ganze Internet von den Tech-Riesen längst vollständig übernommen wurde. Die digitalen Zukunftsmärkte sind von Monopolen und Oligopolen besetzt, das konnten unsere Messungen ganzheitlich belegen (siehe Abb.).

Die digitalen Zukunftsmärkte sind von Monopolen und Oligopolen besetzt - Grafik: Verena Bönniger

 
Der Rest des Internets ist ein gigantischer Friedhof. Alle außer Dark Tech sind unter die Räder geraten: Die Medienhäuser, die Markenkonzerne und werbetreibenden
Unternehmen, die Blogger und Kreatoren, die E-Commerce-Anbieter, die Startups. Wir haben das für Dutzende von Märkten bis ins letzte Pixel vermessen. Niemand kann sich dem Sog der Monopole entgegenstellen, weder in Deutschland noch sonst wo in der westlichen Welt. Wir alle arbeiten quasi gratis für die Tech-Riesen. Sie sitzen im digitalen Maschinenraum und schaufeln sich durch ihre Gateways nach Herzenslust den digitalen Traffic zu.
Sie bestimmen die Regeln und kontrollieren das Netz. Und durch KITechnologien wie ChatGPT können sie diese Dynamik nach Belieben beschleunigen. Wir sind nur noch die Fruchtfliegen in ihrem Spiel.
 
Content Marketing ist quasi tot, Sichtbarkeit gibt’s hauptsächlich noch gegen Bezahlung. Der organische Traffic ist auf den größten Markenwebseiten so jämmerlich gering, dass der "Erfolg" der jahrzehntelangen Investitionen der werbetreibenden Unternehmen wohl eher als ein Witz bezeichnet werden darf.
 
Noch viel übler steht es um Digitalisierung der Transaktionen bei den werbetreibenden Unternehmen. Hier gibt es für Hersteller nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder man wird ein rechtloser Untertan des Monopolisten Amazon. Auch hier wurden erst alle Marktteilnehmer durch Lock-in abhängig gemacht, seitdem sind sie nur noch Nutzvieh für die Plattform. Die Konditionen werden von Jahr zu Jahr schlechter – laut der aktuellen Studie von Oliver Wyman verdienen ein Drittel aller Hersteller kein Geld mehr auf Amazon, weil Amazon von Jahr zu Jahr die Konditionen für die eigenen Taschen optimiert. Parallel mästen die draufzahlenden Hersteller Amazon auch noch mit Daten – die Amazon verwendet, um eigene Produkte zu entwickeln. Schon jetzt vertreibt Amazon mehr als 140 Eigenmarken und kann nach Belieben Wertschöpfung aus seiner marktbeherrschenden Stellung ziehen.
 

Die Mechanismen, mit denen Big Tech Hersteller oder Agenturen digital digital trockenlegt, sind exakt diejenigen,
mit denen die feindliche Übernahme der Medien und die Auslöschung der Redaktionen erfolgt. (Dr. Martin Andree)

 
Um sich aus dieser tödlichen Umarmung zu befreien, haben viele werbetreibende Unternehmen in den letzten Jahren Milliarden investiert, um eigene D2C-Geschäftsmodelle aufzubauen. Prinzipiell war die guteIdee  von Direct to Consumer, selbst online Präsenzen aufzubauen, um sich so von den Tech-Monopolen unabhängiger zu machen. Im direkten Kontakt mit den Verbrauchern wollte man selbst einen Zugang zu Daten aufzubauen.
 
Dumm nur, dass aktuell jenseits der Plattformen kaum Traffic ist. Die Wahl ist dieselbe wie für die Medienhäuser, nämlich zwischen Pest oder Cholera: Man stirbt entweder, weil man von der Plattform bis auf den letzten Blutstropfen ausgesaugt wird – oder man stirbt, weil man allein in der riesigen Wüste des trockengelegten Internets chancenlos ist. Wer erinnert sich nicht an die verschiedenen Verzweiflungstaten der Hersteller, existierende D2C-Marken zu akquirieren, um hier zu überleben? Unilever hat angeblich eine Milliarde Dollar allein für Dollar Shave Club ausgegeben und einen Großteil der Anteile schon wieder verkauft. Henkel ist es mit seinen D2C-Akquisitionen nicht viel besser ergangen.
 
Wenn wir in die Zukunft schauen, werden sich die strategischen Optionen für Big Tech noch hübsch vervielfachen. Wenn wir uns nämlich den Funnel der digitalen Zukunftstransaktionen anschauen, fällt sofort auf, dass alle Stationen darin durch ihre Monopole besetzt sind: Amazon ganz unten bei E-Commerce, im unteren Funnel die Google-Suchmaschine, im oberen Funnel je nach Mediengattung Social Media (Meta) oder Gratis-Video-on-
Demand (YouTube). Weil es Monopole sind, können die Digitalkonzerne hier in Zukunft beliebig Preise setzen und ihre eigene Wertschöpfung erhöhen, wie sie wollen. Die Zeche bezahlen erneut die werbetreibenden
Unternehmen. Und die Agenturen werden zunehmend durch KI ersetzt.
 
Selbst wenn wir also ganz lässig unsere Demokratie aufgeben und nur auf die Wirtschaft schauen, sollte uns die Rockstar-Partylaune vergehen. Zumal auch sehr naive Menschen merken müssten: Die Mechanismen, mit denen Big Tech Hersteller oder Agenturen digital trockenlegt, sind strukturell exakt dieselben wie diejenigen, mit denen die feindliche Übernahme der Medien und die Auslöschung der Redaktionen erfolgt. Die haben auch
nur eine Wahl: Gratis für die Plattformen arbeiten – oder verhungern da draußen im Traffic-Friedhof.
 
Was würden meine Rockstars tun? Sie würden den Aufstand proben. Hamburg ist ja eine tolle Stadt. Stellen wir uns doch mal kurz vor, die 70.000 geblitzdingsten Festivalbesucher würden aufwachen und entdecken, dass sie tatsächlich „Online Marketing Rockstars“ sind. Dass sie ab sofort für eine bessere, demokratische und vielfältige digitale Welt kämpfen wollen, die nicht von Dark Tech beherrscht wird. Sie würden flugs vor die glitzernden
Hamburger Büros der GAFAM ziehen und ihnen da mal ordentlich die Meinung geigen. Und nach diesem allergeilsten OMR-Festival aller Zeiten würden wir einfach den Spieß umdrehen und uns das Netz zurückholen. Das wäre echt Rockstar-Style.
 
No worries, das wird nicht passieren. Wir ziehen jetzt gemeinsam nach Hamburg. Und wir werden hübsch vor den Digitalkonzernen niederknien und sie weiter anbeten. Auch wenn es sich zunehmend komisch anfühlt, unser lässiges Lebensgefühl in unseren hippen digitalen Beanbag Workspaces, oder? Wie machen wir da nur weiter mit unserer badass digitalen Coolness? Einfach ignorieren? Schieben wir uns die Baseball- appe einfach weiter falschrum auf, setzen uns in unsere urbanen Industrial-Graffiti-Garagen – und arbeiten in Wirklichkeit mit Leibeskräften daran, unsere freie Welt abzuschaffen und Dark Tech noch schneller an die Macht zu bringen? Wäre
das dann unser „Purpose“, von dem wir doch so gern überall sprechen?
 
Lasst uns dann doch einfach die ganze Farce stoppen. Lasst uns das Theaterspiel der coolen Hipster, der lässigen Nerds und der Tech-Freaks einfach aufgeben. Solange wir uns nicht trauen, die digitale Bastille zu stürmen und das Netz zu befreien, sind wir keine Online Marketing Rockstars – wir sind dann leider bloß die Klonkrieger von Big Tech.