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Starcom-Digitalexperte Christoph Duscynski: "Was das Marketing von der Europawahl lernen kann"


Christoph Duscynski berät Starcom-Kunden bei der digitalen Transformation (Foto: Publicis)

Ein Gastbeitrag von Christoph Duscynski, Manager Digital Transformation bei Starcom

"Was haben politische Wahlen mit Marketing zu tun? Eine ganze Menge, wenn man Wahlen als kollektiven Willensausdruck der Menschen wahrgenommen und entsprechend analysiert. Denn im Marketing geht es doch genau um dieses Thema: Menschen und was sie wollen. Es bietet sich also an, einen genaueren Blick auf die vergangene Europawahl zu werfen und die Erkenntnisse, die sie zu Tage gefördert hat, zu bewerten.

1. Das grüne Gewissen
Die Grünen sind der große Gewinner der Europawahl. Mit einem Zuwachs von fast 10 Prozentpunkten im Vergleich zu 2014 haben sie sich erstmalig in der Geschichte zur zweitstärksten Kraft in Deutschland aufgeschwungen. Die Gründe für diesen kometenhaften Aufstieg liegen auf der Hand. Für 48 Prozent aller Wahlbeteiligten spielten Klima- und Umweltschutz die größte Rolle bei der Wahlentscheidung. Hier zeigt sich, wie stark die Entwicklungen der vergangenen Monate das Denken der Menschen verändert haben. Fridays For Future demonstrieren seit mittlerweile acht Monaten jeden Freitag für mehr Klimaschutz. Unterstützt werden sie von den Scientists For Future, einem Zusammenschluss von mehr als 25.000 Wissenschaftlern, die spätestens mit ihrer Bundespressekonferenz im März den Zielen von Fridays For Future die inhaltliche Legitimation erteilt haben. Bedenkt man jetzt noch die enorme mediale Begleitung des Themas, ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Menschen begriffen haben, dass es um mehr geht als ein Aufbegehren der Jugend.

Aber was bedeutet das für das Marketing? Muss nun jedes Unternehmen "grün" werden, um künftig erfolgreich zu sein?
Schauen wir zunächst auf den Status quo. Eine Marke, die eine regelrechte Renaissance erlebt, ist das Fashionlabel Patagonia. Jeden Tag sieht man das ikonische Logo auf den Rücken junger Hipster in Deutschlands Innenstädten. Gegründet in 1973 hat sich Patagonia seit jeher den Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit verschrieben. Viele erinnern sich noch an die legendäre "Don’t buy this jacket"-Anzeige in der 'New York Times', in der sie dazu aufriefen, kaputte Patagonia-Kleidung kostenlos reparieren zu lassen, anstatt neue zu kaufen. Zuletzt machte CEO Rose Marcario mit der Meldung Schlagzeilen, dass Patagonia die von der Trump-Regierung gewährten Steuererleichterungen für Großunternehmen komplett an karitative Umweltorganisationen spenden wird. Insgesamt 10 Mio. USD. Ein starkes Zeichen für Umweltschutz und gegen Steuerungerechtigkeit, welches mal wieder die klare Haltung der Marke zum Ausdruck bringt. Patagonia ist ein Paradebeispiel für "practise what you preach" und das wird von den Konsumenten entsprechend wertgeschätzt und belohnt.

Interessant ist derzeit auch ein Blick auf die Ebene der Gesamtbevölkerung. 43 Prozent der Deutschen sagen, dass ihre favorisierten Marken umweltfreundliche Produkte herstellen sollen. Dies ist eine Steigerung um 12 Prozentpunkte im Vergleich zum Jahr 2017. Wir sehen also auch hier einen klaren Trend hin zu mehr Umweltbewusstsein.

Wer die Frage von oben hiermit für abschließend beantwortet hält, den muss ich leider enttäuschen. Denn trotz all des Bewusstseins der Konsumenten um den Klimawandel gibt es auch Fakten, die in eine andere Richtung zeigen. Bspw. wurden in Deutschland in 2019 mehr SUV als jemals zuvor zugelassen. Ein Paradoxon, welches sich schwer erklären lässt, aber dennoch der Realität entspricht.

2. Deutschland (einig) Vaterland
Die nächste bemerkenswerte Beobachtung, die man bei der Europawahl machen konnte, betrifft ein Thema, welches Marketeers hinlänglich bekannt ist. Die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft.
Während die jungen Wähler ihr Kreuz überwiegend bei den Grünen machten, bevorzugen die Rentner mehrheitlich die Union. Eine Auswertung nach geographischen Regionen zeigt: die Grünen gewinnen die Metropolen, CDU/CSU den Großteil der ländlichen Gebieten und die AfD die östlichsten Wahlkreise. Und als wäre das noch nicht genug, gibt es auch gravierende Unterschiede zwischen verschiedenen Bildungsgraden.

Begründen lassen sich diese Resultate durch die völlig unterschiedlichen Lebenswelten, in denen sich Menschen heute befinden. Die alltägliche Realität mit all den Sorgen, Freuden, Ängsten und Perspektiven eines Rentners im Emsland sieht nun einmal ganz anders aus als die eines Studenten in Berlin. Wie erwähnt, ist diese Art der Fragmentierung für das Marketing nicht neu. Uns ist schon lange klar, dass kein echter Mainstream mehr existiert und das Konzept "One message fits all" längst überholt ist. Die neue Zauberformel heißt Personalisierung. Also datenbasierte 1-zu-1-Komunikation im großen Stil, zumeist in digitalen Medien.

Soweit so gut, doch obwohl die Datenlage aus Marketingsicht immer dichter und die Tools immer besser werden, sind wirklich gelungene Personalisierungskampagnen momentan immer noch eher Ausnahme als Regel. Zu oft geht die individuelle Kreation nämlich nicht über die Anpassung von ein paar Bannertexten hinaus. Hier können wir alle noch viel besser werden.

Ein positives Beispiel, welches zeigt, dass Personalisierung auch vor dem klassischsten aller Medien nicht Halt macht, lieferte Daimler voriges Jahr zur WM. Die Heftcover von 11Freunde-Abonnenten wurden mit persönlichen Widmungen versehen und gemessen an den durchweg positiven Resonanzen in Social Media war die Kampagne ein voller Erfolg. So einfach kann es sein.

3. Speakers‘ Corner reloaded
Plötzlich war sie da. Die "Zerstörung der CDU". Rezo und sein mittlerweile mehr als 15-millionenfach abgerufenes Video kamen überraschend und unangekündigt. Interessant ist, dass es sich bei dem Werk um keine pure Meinungsäußerung, wie man es von Celebrity Endorsements à la "I vote Hillary" aus den USA kennt, handelt. Hier hat ein junger Mann seinen Meinungsbildungsprozess öffentlich gemacht, mit vielen Fakten und Quellen untermauert und so einen Zugang zu vielen Menschen aufgebaut, der weit über den üblichen Einfluss von Youtubern hinausgeht. Wie unvorbereitet die CDU auf einen derartigen Angriff war, zeigt sich unter anderem in der ungelenken Reaktion Annegret Kramp-Karrenbauers inklusive des Rufs nach strikteren Regeln für die Meinungsfreiheit im Netz.

Auch Unternehmen müssen sich daran gewöhnen, dass ihre Kunden ihnen heute auf Augenhöhe begegnen und auch so behandelt werden wollen. Es ist an uns, diesen neuen Dialog als Chance und nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Dies behandelt Themen wie die Wahl der richtigen Influencer für die eigene Kampagne (und hier gibt es eine Vielzahl an positiven, aber auch negativen Beispielen) oder das Community-Management in Social Media. Gerade letzteres wird oftmals sehr stiefmütterlich behandelt, obwohl es einer der wirkungsvollsten Kanäle für die Entstehung echter Brand Love sein kann, wie das folgende Beispiel zeigt.

Noch einen Schritt weiter gehen junge Unternehmen wie der Energydrink-Hersteller LevlUp, der seine Community sogar aktiv in die Produktpolitik einbezieht. Der aktive Dialog mit den eigenen Kunden und denen, die es werden sollen, eröffnet Möglichkeiten, die weit über die des klassischen Marketings hinausgehen und von denen sowohl Brand als auch Konsument profitieren. Win-win.

Was konnten wir nun aus der Europawahl lernen?
Sicherlich die Gewissheit, dass gesteigertes Umweltbewusstsein kein Trend ist, der bald wieder vorbeigeht, sondern ein Status quo, der uns noch lange begleiten wird. Ich kann dabei nur jedem Unternehmen raten das Thema mit ausreichender Ernsthaftigkeit anzugehen und vor der Konzeption der passenden Marketingkampagne zunächst die eigenen Werte und Strukturen genau zu hinterfragen und ggf. anzupassen. Denn in Zeiten der Transparenz lassen sich Konsumenten von ein bisschen Werbung sicherlich nicht täuschen.

Darüber hinaus bleibt die Erkenntnis, dass sowohl Personalisierung, als auch der Dialog mit den Menschen ein großes Potential für Marken darstellen, welches es künftig auszuschöpfen gilt. Last but not least bleibt festzuhalten, dass es sich auch für Marketeers lohnen kann, die politischen Entwicklungen in der Gesellschaft von Zeit zu Zeit genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn es gibt dann eben doch mehr zu lernen als nur die neuesten Slogans auf Twitter.




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(is) 31.07.2019


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